Geschenkte Freiheit

Eigentlich wollte die niederländische Überseering BV nur ein Bauunternehmen auf Schadensersatz verklagen, das einige zur Gesellschaft gehörende Immobilien in Düsseldorf angeblich mangelhaft saniert hat. Doch das Landgericht wies die Klage ab. Begründung: Obwohl mittlerweile zwei Deutsche das Unternehmen gekauft und seinen Sitz ins Inland verlegt hatten, sei ein nach niederländischem Recht geführtes Unternehmen hier zu Lande nicht prozessfähig. Was als simpler Krach um eine Baustelle begann, wurde ein wegweisendes Urteil von weit reichender Bedeutung. Der Europäische Gerichtshof befand nämlich: Jedes europäische Unternehmen hat das Recht, in jedem Mitgliedsstaat der EU seinen Geschäften nachzugehen, unabhängig vom Ort seiner Gründung. Wer die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft vor Ort nicht anerkennt, wie das Düsseldorfer Landgericht im Fall Überseering, hindert ein Unternehmen faktisch daran, sich in einem EU-Land als bestehende Gesellschaft nach ausländischem Recht niederzulassen.
Das geht nicht, so das Votum der Richter. Wenn ein Unternehmen innerhalb der EU seinen Sitz verlegt, ist es nicht nur im Zuzugsland voll rechtsfähig – darüber hinaus muss das Gastland auch das jeweilige Recht des Gründungsstaates anerkennen. Das bedeutet im Klartext: Die Überseering kann in Deutschland nach niederländischem Recht agieren. Genauso wie eine englische „Private Limited Company“ in Stuttgart nach britischem Gesetz oder eine französische Aktiengesellschaft in Frankfurt nach gallischen Regeln. Oder eine „Corporation“ aus Detroit und eine „Limited Liability Company“ aus New York in Hamburg nach amerikanischem Recht. Denn der Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen der BRD und den USA von 1956 besagt, dass US-Gesellschaften hier nicht schlechter gestellt werden dürfen, als die Gesellschaften eines dritten Landes.
Die Folgen dieser Entscheidung sind enorm. In Deutschland werden sich künftig deutlich mehr ausländische Gesellschaften niederlassen und dabei ihr eigenes Recht importieren. Das löst einen echten Wettbewerb der Gesellschaftsrechte aus – und die deutsche Kontroll- und Regelwut könnte im Kampf der Systeme leicht ins Hintertreffen geraten. Das sind gute Neuigkeiten! Beispielsweise könnte die Entscheidung der Richter dafür sorgen, dass die Notwendigkeit der Mitbestimmung in den Aufsichtsräten in der Bundesrepublik neu diskutiert wird. Viele ausländische Investoren machten nämlich bislang einen großen Bogen um Deutschland, weil sie die hiesigen Arbeitnehmervertreter in den Kontrollgremien als kontraproduktiv empfanden. Jetzt müssen sie nur in London oder Amsterdam eine Gesellschaft gründen und dann deren Sitz nach Deutschland verlegen, um so nach britischem oder holländischen Recht ihre Sorgen mit einem zu großen und ineffektiven Aufsichtsrat made in Germany los zu werden.
Demnächst werden hier also Gesellschaften nach dem sehr viel flexibleren Recht der Angelsachsen oder Niederländer agieren. Das wird den Deutschen erneut zu Bewusstsein bringen, wie starr und verkrustet unsere Gepflogenheiten sind. Viele einheimische Beobachter fordern längst, die Gewerkschafter aus den Gremien zu werfen. Denn Kontrolle läuft hier faktisch so: Die Arbeitnehmervertreter sprechen sich schon vor der eigentlichen Sitzung ab, alle anderen Räte versammeln sich ebenfalls vor dem Termin und diskutieren das Wesentliche unter sich. Die offizielle Sitzung ist oft eine reine Alibiveranstaltung. Diese Praxis konterkariert das deutsche Aktienrecht.
Besinnen wir uns doch auf frühere Tugenden! Deutschland hat als Ursprungsland der GmbH seinerzeit die erfolgreichste Gesellschaftsform des 20. Jahrhundert erfunden und ist damit in aller Welt kopiert worden. Das Überseering-Urteil bietet den Anlass und die Chance, unser Gesellschaftsrecht erneut zu modernisieren – und nun auf anderer Ebene den Erfolg der GmbH im 21. Jahrhundert zu wiederholen.
Süddeutsche Zeitung
Nr. 85 / 13.04.2004, Seite 24