Grassierende Sparwut in den Unternehmen Jetzt die Goldfische aus dem Hochbegabten Teich angeln

Noch vor sechs Monaten lasen wir in der Zeitung: "Der Wettbewerb um Fach- und Führungskräfte in der deutschen Wirtschaft wird immer härter." Und: "So wie Kopernikus realisierte, dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht, so müssen Manager heute feststellen, dass die heiß gesuchten Talente die Firma nicht in ihren Mittelpunkt stellen." Vom "War for Talent" war viel die Rede. Nun, der ist mittlerweile vorbei. So gründlich, dass der Frieden inzwischen an Grabesruhe erinnert. Jetzt rennen die jungen Technologie-Freaks nicht mehr in übergroßen T-Shirts und zerlatschten Turnschuhen herum, weil es so cool aussieht, sondern weil sie sich nichts Schickeres mehr leisten können.
Doch Schadenfreude ist völlig unangebracht. Denn der Absturz der Konjunktur hat auch seine positiven Seiten - zumindest für die Unternehmer und Aufsichtsräte, die darüber nachdenken, die Managementqualität in ihren Unternehmen zu verbessern. War bis vor wenigen Monaten der Markt für Fach- und Führungskräfte noch wie leer gefegt, suchen heute wieder viele qualifizierte Menschen eine Stelle. Der Zeitpunkt wäre für die Arbeitgeber also optimal, um sich mit frischem Blut und neuen Ideen zu versorgen.
Beispielsweise ist es dank schleppender Geschäfte und grassierender Sparwut heute viel leichter als noch vor Jahresfrist, ausgezeichneten Nachwuchs zu rekrutieren. In Zeiten, in denen sich sogar die großen US-Unternehmensberatungen beim Einstellen zurückhalten, kann es auch agilen großen Mittelständlern gelingen, den einen oder anderen Goldfisch aus dem kleinen Teich der hoch Begabten an Land zu ziehen.
In besseren Zeiten landen die so genannten High Potentials nämlich für gewöhnlich bei McKinsey und Kollegen - oder in den großen Kanzleien und Investmentbanken. Aber derzeit müssen selbst Kandidaten mit Prädikatsexamen in einen sechsmonatigen Sprachkurs nach Spanien flüchten oder mit einem langwierigen Dissertationsprojekt an der nächsten Uni überwintern, weil kaum ein Arbeitgeber über die Weitsicht verfügt, sie einzustellen. Das ist ziemlich unprofessionell, denn seien wir ehrlich: Wirklich begabter und hoch qualifizierter Nachwuchs wird auch langfristig eine knappe Ressource sein, gleichgültig, wie die Konjunkturkurve der Zukunft verläuft. Die Zahl der Erwerbstätigen wird rein demographisch begründet stark zurückgehen, weil viele Berufstätige in den Ruhestand treten. Gleichzeitig wird der Korridor schmaler, aus dem sich die neuen Führungskräfte rekrutieren sollen. Betrachten wir einmal nur die Ingenieure: In den kommenden Jahren müssen laut Prognos Institut 200.000 Ingenieure und Elektrotechniker ersetzt werden - aus den Universitäten kommen aber nur 100.000 Absolventen dieser Fächer.
Doch leider kennen offenbar zu wenige das chinesische Zeichen, das nicht nur für "Krise" steht, sondern auch "Chance" bedeutet. So geben in einer jüngst veröffentlichten Studie 75 von 100 befragten Unternehmen an, derzeit keine Führungskräfte einzustellen.
Eine andere Studie weist aus, dass die Nachfrage nach erfahrenen Führungskräften weltweit in den ersten drei Monaten des Jahres um 22 Prozent unter der des Vorjahreszeitraums liegt. Die Amerikaner jedoch haben offenbar schon wieder die Nase vorn: Dort wurden im ersten Quartal dieses Jahres 20 Prozent mehr Manager eingestellt als in den drei Monaten davor. Das liegt einerseits am Grundoptimismus der Amerikaner und andererseits an ihrem liberalen Arbeitsrecht. Aber auch daran, dass sie die Regeln des Shareholder Value verinnerlicht haben und wissen: Gutes Personal ist eine Investition, die sich deutlich über Kapitalkosten verzinst.
Warum werden im Gegensatz dazu hier zu Lande Personalfragen so kurzfristig betrachtet und so stiefmütterlich behandelt? Aus mehreren Gründen. Erstens werden Mitarbeiter - egal auf welcher Ebene - von den meisten Organisationen immer noch nur als Kostenfaktor gesehen. Selbst wenn viele in ihren Reden auf der Hauptversammlung vom "Humankapital" reden, haben nur die wenigsten begriffen, dass Personal tatsächlich ein Aktivposten ist - in der Wissensgesellschaft vermutlich sogar der entscheidende.
Zweitens kämpfen viele Unternehmen ums Überleben und meinen, keine Zeit zu haben für "nachrangige Probleme" wie Personal. Das ist oft fatal, denn gerade Turnaround-Prozesse müssen souverän administriert werden. Und dieselben Leute, die ein Unternehmen in Schwierigkeiten brachten, sind für gewöhnlich nicht in der Lage, es aus denselben auch wieder herauszuholen.
Drittens glauben offenbar viele Verantwortliche, der Betriebsrat mache ihnen Schwierigkeiten, wenn sie einerseits an der Basis betriebsbedingt kündigen und andererseits neue Führungskräfte einstellen. Diese Haltung unterschätzt die Arbeitnehmervertreter: Denen ist oftmals klar, dass der Fisch in der Regel vom Kopf her stinkt.
Welt am Sonntag
Nr. 28 / 14.07.2002, Seite 2