Manager sollten auch sagen, was sie denken Wirtschaften im Land des Heuchelns

"Basiert geschäftliche Glaubwürdigkeit nicht hauptsächlich auf Geld oder Besitz?" wurde einst J. P. Morgan in einer Anhörung des amerikanischen Kongresses gefragt. "Nein", antwortete der wohl einflussreichste US-Bankier seiner Tage, "das Wichtigste ist Charakter." Der skeptische Jurist fragte zurück: "Noch vor Geld oder Vermögen?" Darauf Morgan: "Charakter kommt vor allem anderen, denn man kann ihn nicht kaufen."

In seinen Tagen wurde Morgan als Chef des Money Trusts heftig kritisiert, weil er große Teile der amerikanischen Investmentgelder kontrollierte. Dennoch steht er für eine Botschaft, die bis heute Gültigkeit hat, auch wenn wir dazu neigen, sie zu verdrängen: Wir sollten Geld nicht mit Charakter verwechseln.

Ersteres sollte eigentlich nur eine allgemein geschätzte Anerkennung sein für Letzteres, viel Wesentlicheres. Charakter heißt Kreativität, Verlässlichkeit, Begabung, Integrität, Urteilsvermögen – und Mut zu haben. Wer all das mitbringt und Unternehmer wird, kann mit etwas Glück auch viel Geld verdienen. Umgekehrt beschritten – also erst auf die schnelle Mark zu setzen und zu hoffen, dass sich mit Kapital auch Persönlichkeit einstellen möge –, gerät dieser Weg über kurz oder lang für alle Beteiligten zu einem Debakel.

Doch zurück zum Charakter. In schwierigen Zeiten fällt an vielen Managern besonders ihr Mangel an Mut ins Auge. Dabei geht es nicht einmal um die Löwenhaftigkeit einer Sharron Watkins. Sie war Vice President bei Enron und offenbar die Einzige mit Rückgrat in der Geschäftsführung: Sie warnte ihren CEO Kenneth Lay schon im Sommer 2001 – also ein halbes Jahr vor dem Antrag auf Gläubigerschutz – vor den seltsamen Bilanzgewohnheiten im Konzern und ihren möglichen Folgen.

Nicht jeder hat wie Watkins den Mumm, sich Kriminellen in den Weg zu stellen. Doch zumindest der Mut, die eigene Ehre zur Not auch öffentlich zu verteidigen, könnte von der unternehmerischen Elite des Landes erwartet werden.

Als jedoch Bundeskanzler Gerhard Schröder unlängst die Vertreter der deutschen Wirtschaft als "fünfte Kolonne der Opposition" verunglimpfte, ging kein Aufschrei durch das Land. Einsam musste Michael Rogowski als Sprecher des Bundesverbandes der Deutschen Industrie ein Kontra formulieren.

Viele werden einwenden, die Wirtschaft nimmt Schröder eben nicht einmal ernst genug, um auf seine Polemik zu reagieren. In der Tat interessieren sich viele Manager nur sehr am Rande für Politik, dennoch drängt sich dem nüchternen Beobachter gerade vor einer Wahl der Eindruck auf, dass sich manch ein Entscheider verhält wie ein Kaninchen vor der Schlange. Zu viele wollen es sich mit keinem verderben, warten auf den Ausgang des Votums und hoffen, dass danach alles besser wird: Die Regierung, die Konsumneigung, die Konjunktur und die Zahlungsmoral ihrer Kunden. Doch Stoßgebete allein ändern gar nichts.

Im privaten Kreis und unter Gleichen ist es ein Leichtes, wirklich radikale Bildungs-, Wirtschafts- und Steuerreformen einzufordern. Jeder weiß schließlich, was eigentlich Not täte, fast alle haben ihr persönliches Programm zur Runderneuerung in der geistigen Schublade. Öffentlich traut sich jedoch kaum einer, seine Überzeugungen deutlich zu formulieren. Dieselben Leute werfen jedoch den Politikern Verlogenheit vor, wenn diese im Hinblick auf ihre Wiederwahl darauf verzichten, die offensichtlich drohenden Krisen im Gesundheits- oder Rentenwesen offen anzusprechen. Das ist heuchlerisch und schade. Denn das Land könnte nur gewinnen, wenn mehr Menschen mit ökonomischem Sachverstand sich zu Wort meldeten. So wie Wendelin Wiedeking.

Der Chef von Porsche hält mit seiner Meinung über die Subventionspolitik und die Manager der Autohersteller, die sich ihre Werke öffentlich finanzieren lassen, nicht hinterm Berg: "Luxus und Stütze passen nicht zusammen." Der Automann hat auf 50 Millionen Euro Subventionen verzichtet, die er für den Bau des neuen Porsche-Werkes in Leipzig hätte bekommen können.

Helmut Kohl bescheinigte er, von Wirtschaft keine Ahnung zu haben, bei der rot-grünen Regierung hat er sich mit einem Plakat für die Steuerreform bedankt. Begründung: "Unternehmer können von Politikern nicht immer nur fordern." Er ist offenbar der Meinung, dass ein Topmanager sich auch an der gesellschaftspolitischen Diskussion beteiligen muss, weil sich nur dann auch etwas bewegt. Und "bewegen" wollen ja angeblich alle Chefs, zumindest betonen sie das in Vorstellungsgesprächen und Sonntagsreden.

Das soll nun beileibe nicht heißen, dass die Wirtschaft rot-grüne Reformen bewerben sollte. Trotzdem wäre es sinnvoll und im besten Sinne patriotisch, wenn der eine oder andere Manager seinen Beitrag zur politischen Meinungsbildung leisten würde. Das finden übrigens auch die Bürger. Eine repräsentative Umfrage der Unternehmensberatung Marketing Corporation ergab unlängst, dass zwei Drittel der Deutschen Topmanager für die besseren Wirtschaftspolitiker halten als das übliche Personal der Parteien. Die Leute wissen aus Erfahrung: Die Lufthoheit in der politischen Meinungsbildung Politikern und Journalisten zu überlassen, bringt die deutsche Wirtschaft nachweislich nicht voran.

Das weiß auch Lothar Späth, der beide Seiten kennt. Seit Jahren beklagt er den Zustand des Landes, die verkrusteten Strukturen, die mangelnde Dynamik. Egal, wer gerade regiert. Auch seitdem er wieder in der Politik antritt, weigert er sich, Steuererleichterungen oder andere populistische Maßnahmen zu versprechen, die Stimmen bringen könnten.

Späth glaubt offenbar, dass die Deutschen auch zu Opfern bereit wären, wenn die Politiker ihnen reinen Wein einschenken und ihnen schlüssig erklären würden, warum diese nötig sind. Seine "unfrisierten Ansichten" – wie er sie selber nennt – fallen ihm natürlich leichter, seitdem er als Manager gelernt hat, was persönliche Unabhängigkeit ist. Über die würden allerdings auch noch ganz andere verfügen. Auch Wiedeking gibt zu, dass es natürlich leichter ist, den Mund weit aufzumachen, wenn man erfolgreich und unabhängig ist. Was er dagegen nicht sagt: Vielleicht ist er auch deswegen der erfolgreichste deutsche Automanager, weil er sagt, was er denkt.

Späth wie Wiedeking brauchen sich heute trotz ihrer Offenherzigkeit um Anerkennung nicht mehr zu sorgen. Allerdings haben sie nun das Problem, dass sie sich auch an ihre eigenen Prämissen halten müssen, wollen sie sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Schwer zu glauben, dass so viele andere deutsche Manager zu den wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten schweigen, damit sie hinterher nicht beim Wort genommen werden können.

Welt am Sonntag
Nr. 36/ 08.09.2002, Seite 32